Aris Kalaizis

Das Delirium der Oberwelt durch die Unterwelt des Realen in den Werken Aris Kalaizis.

In ein­er ersten Annäher­ung unter­sucht die in Köln lebende und nach Lacan und Freud prak­t­iz­i­er­ende Psy­chona­lytiker­in Fotini Ladaki das Werk des Leipzi­ger Malers Aris Kalaizis' unter dem Aspekt ein­er zurück­ge­wonnen­en Mys­tik. Dar­in bes­chreibt sie die dafür not­wendi­gen Ver­flech­tun­gen der Ober- und Unterwelt.

Aris Kalaizis | Die Existenz des Nichtseienden | 120 x 150 cm | 2008
Aris Kalaizis | Die Existenz des Nichtseienden | 120 x 150 cm | 2008

Traum­haft. Mystisch. Eine Syn­these von mehr­er­en Wel­ten, unteri­rdisch und nicht von dieser Welt kom­mend, wirken die Bilder von Aris Kala­izis dem Betrachter ent­ge­gen. Der Satz aus der Aeneis von Ver­gil „Flectere si nequeo superos acheronta movebo“ („Wenn ich die Göt­ter (der Ober­welt) nicht bewe­gen kann, werde ich die (der) Unter­welt) bewe­gen“) scheint hier ein­zu­gre­ifen. Den gleichen Satz stell­te auch Freud im Jahr 1900 sein­er Traum­deu­tung vor­an. Für die Kunst kann eine sol­che Botschaft nie mystisch genug sein. Als Inspir­a­tion­squelle oder als Epi­phanie, wie Joyce in der Ästhet­ik The­or­ie über seine eigene Lit­er­at­ur definiert hat, scheint sie den Geist der Kunst zu umkreisen. 
Denn nur ihr allein gelingt es die Ver­flech­tun­gen von Ober­welt und Unter­welt jen­seits aller Mor­al­pre­digten und Geset­ze der Reli­gion zu meistern. Deswe­gen wurde die Kunst des "Neue Leipzi­ger-Schule"- Malers Kalaizis' von der amerik­an­is­chen Kun­sthis­toriker­in Car­ol Strick­land mit dem Begriff des Sot­toreal­is­mus assoziiert. Sotto heißt auf itali­en­isch unter­halb oder unter und real­is kom­mt von res das Ding oder die Sache betreffend. 


…unter dem Realen ver­steht Lacan etwas Unfass­bares und Unsagbares


Aber das Ding hat in der Philo­soph­ie von Heide­g­ger und auch in der psy­cho­ana­lyt­ischen The­or­ie von Lacan ein­en bedeu­tenden Platz ein­gen­om­men. Lacan spricht das Ding dem Realen zu. Das Reale ist nicht mit der Real­ität gleichzu­set­zen. Die Real­ität ist nur der geord­nete Teil des Realen. Das Reale ist ein Teil der Topo­lo­gie der Bor­romäis­chen Knoten Lacans (RSI = Reales, Sym­bol­isches, Ima­ginäres). Mit dieser Fig­ur definiert er die psych­is­che Struk­tur des sprechenden Sub­jekts. Das Ding macht nach Lacan ein Loch im Realen. Unter dem Realen ver­steht Lacan etwas Unfass­bares und Unsag­bares, das sich jeder Ima­ginier­ung und Sym­bol­isier­ung wider­set­zt. Dem wird Traum, Trauma, Chaos oder Hor­ror zuge­sprochen. Aber auch der Körp­er, nicht die Vor­stel­lung eines Körper­bildes, ist ein Teil des Realen. „Das Ding als Frem­des, gele­gent­lich sog­ar feind­lich­er, jeden­falls als das erste Außen, ist das, wor­an sich der gan­ze Weg des Sub­jekts ori­entiert. Es ist ohne Zweifel ein Weg der Kon­trolle, der Ref­er­enz, im Ver­hält­nis wozu? – zur Welt sein­er Begehren.“( Jaques Lacan: „Die Ethik der Psy­cho­ana­lyse“, S.67)

Was stel­len die Bilder von Aris Kala­izis dar? Die Unter­welt der Ober­welt oder die Ober­welt, die sich hypo­thet­isch noch in den Fän­gen ein­er hal­luzino­gen­en Unter­welt befindet?. 
Man assoziiert dam­it den Satz von Karl Schlö­gel in seinem Buch „Im Raume lesen wir die Zeit“. Aber um welche Zeit und um welchen Raum kön­nte es sich handeln? 


…han­delt es sich um die Unter­welt der Ober­welt oder Ober­welt ein­er hal­lozino­gen­en Unterwelt?


Was ist mit dem Raum, der sich als offenes Buch präsen­tiert, und in sich den­noch apokryph erscheint. Zuerst fällt einem auf, dass es sich nur um ein­en poet­ischen Raum han­deln kann. Denn wenn in einem nor­malen Wohnzi­m­mer plötz­lich der riesige Stamm (mit sein­en kom­plex­en entz­weiten Wurzeln) eines abgeschnitten­en Baumes steht, fragt man sich, was ist das für eine traum­hafte Vis­ion? Um welchen Baum, Stamm und welche Wurzel kann es gehen? Spon­tan assoziiert man dam­it seine eigene Wurzel, den Stamm-Baum, die Stammes-Geschichte, Abstam­mung, Herkun­ft oder womög­lich auch Heimat? In ein­er Zeit der Mass­en­wan­der­ungen ist das wie ein über­gre­ifendes, schwebendes Symbol. 
Können die aus­ge­sucht­en und let­zt­lich darges­tell­ten Objekte, Platzhal­ter für Sig­ni­fik­anten sein? Als Sig­ni­fik­anten bezeich­nete Lacan, diejeni­gen sig­ni­f­iz­ier­ten Sprac­hele­mente, die ein Sub­jekt für ein­en ander­en Sig­ni­fik­anten repräsen­tier­en sol­len. Denn in der Kunst kom­mt es immer wieder darauf an, dass „Ein Tri­umph des Blickes über das Auge“ stattfin­d­et (Sla­voj Zizek in sein­er „Psy­cho­ana­lyse über Hitch­cock“) „Der fest­steckende Blick iso­liert ein­en Fleck im Realen, ein Detail, das aus dem Rah­men der sym­bol­ischen Real­ität heraussticht‘, kurz ein­en trau­mat­ischen Über­schuss des Realen über das sym­bol­ische… Das objekt petit a dieser Szene ist dah­er der Blick selbst.“ Das Objekt klein a gehört nach Lacan dem Bereich des Ima­ginären an, also an jene Stelle des Psych­is­chen, an dem sich das Ima­ginäre, das Sym­bol­ische und das Reale überschneiden.

Der Arbeit­s­prozess von Aris Kala­izis umfasst das Inszen­ier­en ein­er abwesenden Welt, das foto­grafi­er­ende Ablicht­en, und als let­zten Akt: Der malerischen Umset­zung. Hat dieser Prozess das Ziel ein­er optischen Täuschung. Wenn ja, ist dieser Begriff jedoch ist nicht mit dem gängigen und ursprüng­lichen Begriff gleichzu­set­zen. Er inszen­iert im Raum eine Welt von realen Gegen­ständen. Diese Gegen­stände entstam­men der Real­ität, überneh­men aber nach Lacan in diesem inszen­ier­ten Raum den Platz eines abwesenden, unheim­lichen Realen. 


…die Zahl Drei. Drei Sch­ritte. Drei Etappen


Da jeder Künst­ler demi­ur­gisch vorge­ht und ein cre­atio ex nihilo schafft, schafft auch Kala­izis ein­en ästhet­ischen Raum. Die Inszen­ier­ung des Entstehung­s­prozesses erin­nert an eine Trans­gres­sion, an die Durchquer­ung ein­er Wüste. Han­delt es sich um die Wüste des Realen, wie auch Sla­voy Zizek in einem ähn­lich betitel­ten Buch bes­chrieben hat? Auffal­lend dabei ist auch die Zahl Drei. Drei Sch­ritte, drei Etap­pen eines aufwendi­gen Arbeit­s­prozesses, drei Eben­en, von Inszen­ier­en, Festhal­ten und Über-tra­gen oder Über-set­zen. Wird hier eine Par­al­lele von ein­er Trin­ität oder von einem Trip­ty­chon ima­giniert? Thomas von Aquin sprach in sein­er The­or­ie über das Schöne eben­falls von drei Strengen Stufen ein­er Dialektik: Voll­ständigkeit, Har­monie und Leucht­en. Integ­ritas, con­son­an­tia und Clar­itas. James Joyce ima­giniert in seinem Werk Ulysses, das sich an die Odyssee von Homer ori­entiert, eine andere Trin­ität: Para­lyse, Gnomon, Simonie. 
“ Seine Seele, sein Wesen löst sich unver­mit­telt auf vor unser­en Augen aus der Hülle sein­er Erschein­ung. Die Seele des gewöhn­lich­sten Dinges, dessen Struk­tur auf diese Weise umris­sen wird, fängt in unser­en Augen an zu leucht­en und nun vollzieht das Ding seine Epi­phanie, der Erschein­ung Gottes. Was heißt das? Kann die Erschein­ung der Dinge das gleiche bedeu­ten, wie für den Menschen der Tod: den Augen­blick der Läh­mung, die Sekunde der Wahrheit. In den Gip­feln der Kunst offen­bart die Epi­phania die Welt ihr­er ver­borgen­en Wirk­lich­keit und reduziert sie gelichzeit­ig zu ein­er rein­en Essenz.“ (Jean Par­is: „Joyce“, S. 53)
Aber Aris Kala­izis hätte es ja auch alles malen können, nachdem er es aus­gedacht oder erdacht hatte. War­um braucht er diesen Prozess? Soll die Inszen­ier­ung der Beweis­barkeit dien­en? Schafft er ein Raum-Deli­ri­um, der sich als wirk­lich­er als die Wirk­lich­keit selbst behauptet? 


…die Erschein­ung des Realen in der Anwesen­heit des Grotesken


Wenn man den Begriff der Epi­phanie von Joyce als ein­en fun­da­mentalen Begriff für die Entstehung eines Werkes ver­steht, dann ist die Frage, was ist das, was das Werk epi­phan­isch durdringt? Die Inszen­ier­ung von Aris Kala­izis deutet ein­er­seits auf die Wüste des Realen hin, die über­quert wer­den muss. Über dem aufwendi­gen Arbeit­s­prozess scheint eine Hyper­meta­ph­er des Demi­ur­gis­chen zu kreis­en. Gott hat in sieben Tag die Welt erschaf­fen… Nicht umsonst stellt Joyce an die Stelle Gottes die Kunst. Ab dem Moment, wo er Adam aufge­fordert hat, den Tier­en und Din­gen ein­en Namen zu geben, sind die Dinge mor­ti­fiz­iert, kasteit. Der Name als Sym­bol ist der Tod am Ding, sagt Lacan. Dam­it erin­nert es auch an die Präsenz des Grotesken in der Malerei von Hieronymus Bosch, Brue­gel, Gal­lot u.a. Zu der Gat­tung des Grotesken in der Lit­er­at­ur ord­net Kayser die Werke von Goethe, Lenz, Büch­ner, Vic­tor Hugo, Jean Paul, E.A. Poe, E.T.A. Hoff­mann, Kafka u.a.
Zu dem Drama führt er Wede­kind und Schnitz­ler ein. Wolfgang Kayser schreibt in seinem Buch über „Das Groteske“ fol­gendes: “Friedrich Schle­gel ver­sucht das Groteske nicht nur im Umfeld ästhet­ischer Begriffe wie des Naiven, des Komis­chen und Erhaben­en zu situ­ier­en, son­dern auch an kur­rente Chaos­the­or­eme anzuschließen“. Etwas weit­er kom­mt die Erklärung, die sehr an das Reale von Lacan erin­nert: „Kaysers Dop­pelthese, das Groteske ver­weist auf das Unver­füg­bare, Unver­stehbare und Undarstell­bare….“. (Wolfgang Kayser: „Das Groteske“, S. 21). Auch Orna­mentik und Mini­atur gre­ifen ein
Ist nicht gerade das auch die Natur des Realen? 
Der Aufwand in dieser Trin­ität des Schaf­fen­s­prozesses von Aris Kala­izis erscheint an eine Rück­kehr zum Realen zu erin­nern. Ob es auch um eine Heimkehr han­deln kön­ntze, wie in der Hyper­meta­ph­er der Odyssee von Homer, bleibt offen. Auch das Bild mit dem Stammbaum deutet auf ein­en sol­chen Aspekt. Er wagt nun diesen Raum herzus­tel­len und ima­ginär zu betre­ten. Dam­it er einem nicht wieder in die Abwesen­heit ent­fliegt, hält er ihn anschließend pho­to­graph­isch fest. Weil er weit­er­hin abwesend bleibt, muss man ein Zeugnis schaf­fen, das die Inszen­ier­ung bezeugt.
Wenn diese the­or­et­ischen Annah­men dem Werk von Aris Kala­izis näh­er kom­men soll, dann ist die Frage ob seine Malerei, nicht nur dem undarstell­bar­en Realen wie auch dem Grotesken zu Leibe rückt und sich dam­it als ein­en wichti­gen Ver­treter des Grotesken im 21. Jahrhun­dert konstituiert. 


Lit­er­at­ur
Kayser W.: „Das Groteske. Seine Gestal­tung in Malerei und Dich­tung“, Stauffen­burg Ver­lag, Bri­gitte Narr, Tübin­gen, 2004
Lacan J: „Die Ethik der Psy­cho­ana­lyse“, Das Sem­in­ar Buch VII, Quad­riga Ver­lag, Wein­heim, Ber­lin, 1996
Par­is J.: „Joyce“, Rowohlt Taschen­buch Ver­lag, Ham­burg, 1960
Schlö­gel K.: „Im Raume lesen wir die Zeit“, Hanser Ver­lag, München, 2003
Zizek S.: „Quer durchs Reale“, Pas­sagen Ver­lag, Wien, 2012
Zizek S.: “Ein Tri­umph des Blicks über das Auge. Psy­cho­ana­lyse bei Hitch­cock“, Turia und Kant. Wien 1998

Fotini Ladaki, 2016
Fotini Ladaki, 2016

Fotini Ladaki, geb. 1952 in Nord­griechen­land, ist Psy­cho­ana­lytiker­in (nach Lacan und Freud) und arbeitet in ihr­er Prax­is in Köln. Darüber hinaus arbeitet sie rege als freie Autor­in. So ver­fasste sie neben vielen Essays über Kunst und Psy­cho­ana­lyse, Theat­er­stücke, Erzählun­gen und Lyrik auch ein Essay über Ger­hard Richter „Mor­itz“, sow­ie "Der Schreck­en des Sehens als Dasein­ser­fahrung" oder etwa „Freud kam nach Parla-Dora“. Ihre weit­er­en Pub­lika­tion­en sind unter fol­gender Web­seite zu find­en: www.praxisfls.de


©2016 Fotini Ladaki | Aris Kalaizis

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