Aris Kalaizis

Mein Hauptantrieb ist meine Ungeduld

Gespräch zwis­chen dem Philo­sophen Max Loren­zen und Aris Kala­izis über das Arbeiten im Aus­land, Ein­samkeit, das Schöne sow­ie über das Zusam­men­spannen von Gegensätzen

New York (ISCP-Stipendium, 2007)
New York (ISCP-Stipendium, 2007)

Loren­zen: Herr Kala­izis, Sie gel­ten als assoziiert­er Künst­ler der Neuen Leipzi­ger Schule. Vor drei Jahren, vom 18. März bis zum 5. Mai 2005, fand in der Mar­bur­ger Kun­sthalle eine große Aus­s­tel­lung Ihr­er Arbeiten unter dem Titel Ungewisse Jag­den statt. 2006 fol­gte in der maerz­galer­ie Leipzig Rub­ba­cord mit Bildern, die 2005 in den USA, im Zuge eines Arbeitss­ti­pen­di­ums entstanden oder jeden­falls dort konzipiert wur­den und darauf­h­in auch in New York zu sehen sein wer­den. Und auch 2007 kon­nten Sie ein wei­t­eres Aus­landss­ti­pen­di­um in New York wahrneh­men. Unter­hal­ten wir uns aber zun­ächst beson­ders über die 2006 entstanden­en Bilder wie Am Mor­gen danach (2006) oder Am Ende der Ungeduld (2006). Mein­er Ansicht nach stel­len diese Arbeiten, die wieder, nach dem USA-Aufenthalt, in Leipzig gemalt wur­den, auch form­al zugleich eine Aus­wei­tung und Komprimier­ung dessen vor, was Sie them­at­is­ier­en. War 2006 für Sie ein entscheidendes Jahr?


…man begre­ift sein Leben in der Ferne besser


Kala­izis: Soweit würde ich nicht gehen. Auf jeden Fall war mein erster USA-Aufenthalt ein erfahrung­s­reich­er Zeitraum. Sie müssen beden­ken, dass ich ohne­hin ein recht ses­shafter Mensch bin und die Gedanken auf die dam­als bevor­stehende Reise, bereit­eten mir ohne­hin mehr Kop­fzer­brechen, als Freude. Das hat zum ein­en dam­it zu tun, dass ich nur ungern fern der Fam­ilie, fern der Fre­unde sein möchte. Auf der ander­en Seite denk’ ich immer noch für mich, wo so viel zu tun ist für dich, wo das Feld noch nicht bestellt ist, da kannst du dich unmög­lich dav­on­stehlen, denn die Prob­leme die nim­mt man doch mit auf ein­er Reise, ob man nun will oder nicht. 
Aber, vor allem, war ich viel­leicht während meines Sti­pen­di­ums in den USA über­haupt das erste Mal alleine im Leben und das war für mich keine Klein­igkeit. Wenn man, so wie ich, über viele Jahre in ein­er festen Part­ner­schaft lebt, dann teilt sich doch vieles bei der All­tags­be­wäl­ti­gung. Das ist oft erleichternd, manch­mal erschw­er­end. Die Deut­lich­keit der neuen Gren­zer­fahrung zeigte sich jedoch erst nach mein­er Ankun­ft in der Ferne. Man begre­ift sein Leben in der Ferne besser.


L: Kön­nten Sie wichtige visuell-emo­tionale Eindrücke Ihres Amerika-Aufenthalts schildern – Sie war­en in New York, und wo noch?


K: Hauptsäch­lich war ich in Columbus/​Ohio. Ich erhielt zun­ächst 2005 ein erstes Aus­landss­ti­pen­di­um des Staats­min­is­teri­ums für Wis­senschaft und Kunst und war auch darauf vorbereit­et, in der Frem­de zu arbeiten – so dachte ich jeden­falls. Als ich dann aber in der Frem­de saß, dachte ich, hier kannst du unmög­lich arbeiten. Auch hatte ich, wenn ich das sagen darf, anfäng­lich Heim­weh, das sich jedoch, als ich anf­ing zu arbeiten, zuse­hens ver­flüchtigte. Und die Bil­dideen, die mir bereits in Leipzig durch den Kopf schwir­rten, woll­te ich auf kein­en Fall in Colum­bus umset­zen. Ich dachte mir dam­als, so wie ich mir heute oft sage: Du musst auf ’s Gan­ze gehen, sonst verkommst du. 
’Auf’s Gan­ze gehen’, dass hieß und heißt für mich, lass’ dich ein auf das Wag­nis, lass’ dich ein auf das Andere, tauch’ ein in die For­men­welt der neuen Umge­bung. Und so fuhr ich am Anfang meines Aufenthaltes mit meinem klein­en Fahr­rad durch die amerik­an­is­che Land­schaft, war mehr­ere Tage mit den Bein­en und vor allem mit mein­en Augen unter­wegs und war während­dessen sow­ie kurz danach, glaube ich, ziem­lich frus­triert, weil ich dachte, kein­en Ein­stieg in den Ort, in die Umge­bung find­en zu können. Aber es war glück­lich­er­weise nur ein Trug­schluss, denn offen­bar muss ich in jen­en Anfang­sta­gen sehr konzentriert unter­wegs gewesen sein, denn all’ die in Amerika gemal­ten Bilder rek­ru­tier­ten sich ledig­lich aus den intens­iven Beo­bach­tun­gen der ersten Tage. 
Dabei fiel mir auf und kam mir natür­lich zugute, dass die amerik­an­is­che Stadtar­chitek­tur wesent­lich mehr runde For­men aufzeigte, die in ihr­em Wech­selspiel mit strengen, geradlini­gen For­men, mehr durch­dacht scheint, als die Europäis­che, die mir zun­ehmend spitz erscheint. Auf jeden Fall aber, müssen die Erfahrungen so tief, so konzentriert gewesen sein, dass nach dem ersten klein­en Ölb­ild­chen, rasch weit­ere fol­gten, die sich, wie gesagt, aus der Erin­ner­ung der Anfang­stage speisten. 


L: Ihre, wenn ich so sagen darf, amerik­an­is­chen Bilder stehen in ein­er relat­iv kontinu­ier­lichen Linie mit den vorherge­henden. Danach jedoch scheint sich etwas zu ändern. Was?


K: …Ja, das will ich doch hof­fen. Ein Änder­ungs­bestreben oder bess­er noch der Verbesser­ung­swille ist mir fast hei­lig. Ich gehe ja ohne­hin dav­on aus, dass wir Existen­zen zun­ächst nur als ein Entwurf zu einem Menschen in die Welt gewor­fen wer­den und in der Folge des Lebens erst noch beweis­en müssen, ob wir diesem Mensch­sein gerecht wer­den. Das heißt, dass wir Erfahrungen machen müssen, um die Masse an Dumm­heit all­mäh­lich zu ver­schwenden. Ich tue das z.B. in dem ich Bilder male. Jedes Bild ist also insofern eine weit­ere Dumm­heit. Eine Dumm­heit soll­te man jedoch nicht ein zweites Mal bege­hen und insofern soll­te das Bil­der­malen, oder was auch immer, ein Veraus­gabung­s­prozess von ver­schieden­en Dumm­heiten sein. Denn im Grunde sind wir ja nicht reich an Klugheit, son­dern reich an Dumm­heit. Ich male Bilder in der Hoffnung, eines Tages so arm an Dumm­heit zu sein, dass es kaum für den Eigen­be­darf reicht und ich womög­lich am Ende mein­er Vor­stel­lung von einem idealen Bild ein wenig näh­er gekom­men bin. 


…unheim­lichen Schönheit


L: Ihr Kom­pos­i­tion­sprin­zip ist mit­tler­weile bekan­nt: Sie arbeiten nach Fotos von Räu­men oder Orten (wie etwa dem ver­lassen­en Fab­rikgelände in der Umge­bung von Leipzig, s. Die große Hoffnung), in die Sie Fig­uren hineinkom­ponier­en – die eigent­lich das visu­al­is­ier­en, was der Raum gleich­sam für sich schon enthält. Ich zit­iere: ‚Auf jeden Fall muss dieser Hin­ter­grund, den ich im Bild ‚Die große Hoffnung’ weit­erver­arbeitete, ein Ini­tial aus­gelöst haben’ (Gespräch mit dem Sozi­olo­gen Jan Siegt, 2003, wieder­abgedruckt in ‚Rub­ba­cord’). Und diese Ini­tialzündung macht nun etwas Rät­sel­haft­es sicht­bar, das Sie wie­der­um ‚Inbild’ nennen: ‚wo man merkt, jet­zt ras­tet alles ein, und ein Moment himml­is­cher Ruhe tritt ein’ (Gespräch mit Jan Siegt, Kata­log: ‚Von unvor­eili­gen Ver­söh­nun­gen’, 1997). Das ist also der Moment der Inspir­a­tion. Er gibt den ‚Fig­uren ihr Heim’ (Gespräch, 2003). Dieses Heim ist offen­bar das Gegen­teil von dem, was man gewöhn­lich ein Zuhause nennt –

Aris Kalaizis | Das Heim | Öl auf Holz | 60 x 90 cm | 2005
Aris Kalaizis | Das Heim | Öl auf Holz | 60 x 90 cm | 2005

K: Ja, es ist ein Heim, wie Car­ol Strick­land jüngst schrieb, das mit ein­er unheim­lichen Schön­heit aus­gest­at­tet ist. Wenn sie aber sagen, ich arbeite mit Fotos, so ist dies abso­lut zulässig. Ich sage ihnen das, weil ich mich oft ärgere, wenn man ein­er­seits regis­triert, dass ich mit Fotos arbeite, ander­er­seits man mich sogleich in die Ecke der Fotoreal­isten zu steck­en ver­sucht. Ich mis­straue dem ein­zelnen Foto zutiefst. Ich habe kein ein­ziges Bild gemalt, das sich nur eines ein­zi­gen Fotos bedi­ent. Der Fotoreal­ist tut dies. Sich­er kann ein Foto dem, was wir gemein­hin als Wirk­lich­keit bezeichnen, sehr nahe stehen, aber das ist es nicht, was mich interessiert. Ich würde im Gegen­teil behaupten, dass mein Arbeiten eine Suche ist, ein ewiges durch­mäandern durch das, was in mir noch nicht gedacht oder beset­zt wurde. 


…mis­straue dem ein­zelnen Foto zutiefst


Sehen Sie, es gibt in fast all mein­en Bildern eben jene frag­wür­di­gen Stel­len des Über­gangs. Frag­wür­dig insofern sie schein­bar nicht die gemalte Zen­t­ral­form unter­stützen oder ergän­zen, son­dern viel­mehr dav­on weg­führen. Da kön­nte man mein­en, dies sei auch eine Art des so üblichen post­mo­d­ernen Beliebigkeitsspielchens. Dabei können sie mir glauben, dass mich dieser Prozess grü­blerischer Bild­find­ung nächtelang quält, solange quält, bis die ein­zig wahre Lösung am Hori­zont erscheint. Als Res­ultat dieser Suche kann dann natür­lich auch eine schein­bar belan­glose Nichtigkeit her­vorge­b­racht wer­den, aber selbst diese hat ihre Berech­ti­gung, nein, sog­ar ihre Not­wendigkeit, wenn sie neben einem Bild­mo­ment von zen­t­raler Bedeu­tung steht. Zur Bedeu­tung gelangt nur etwas, das sich unter­scheidet. Und mit diesen Unter­scheidun­gen soll­te man haush­al­ten. Aber es ist das Schwierigste! 
Viel­leicht soll­te ich aber bess­er vom recht­en Maß sprechen, welches dring­lich­er denn je ist, in der Malerei, im Film, wie über­haupt auch im All­tag. Ein Fam­i­li­en­vater, der sich seinem Kind gegenüber nur durch Strenge her­vor­tut, ist genauso zu ver­ur­teilen, wie ein Vater mit stets nachgiebi­ger Milde. Die Real­ität, um auf Ihre Frage zurück­zukom­men, oder das, was mir als Real­ität erscheint, ist nicht das, was mich interessiert, denn von ihr werde ich so oder so geprägt – ob ich will oder nicht. 
Die Malerei bietet mir doch die wun­derbare Mög­lich­keit ein­er weit­er­führenden Umgestal­tung. So, wie ich ohne­hin nur eine Kunst akzep­tier­en kann, die mir Entwürfe ein­er ander­en Welt offer­i­er­en. Oft werd’ ich dabei natür­lich enttäuscht, gerade beim Schlendern durch Aus­s­tel­lungen etwa, wo einem oft ein Kon­text mit aller­lei Wis­sen und Wis­senschaft sug­ger­iert wer­den soll. Ich find’ das zum kotzen, weil ich merke, alleine mit deinem ein­zi­gen Kapit­al, dein­en Augen kommst du nicht weit. Dann fühl’ ich mich meist schlecht, weil ich merke, wie doof ich eigent­lich bin. Auch hab’ ich nichts zu sagen – viel­leicht male ich deswegen

Aris Kalaizis, Detail: Deafcon No. 1 (2006)
Aris Kalaizis, Detail: Deafcon No. 1 (2006)

L: Der Raum, der Sie inspir­iert, enthält stets etwas Dop­pel­bödiges? – Man schaue sich etwa ‚Die Nacht an jedem Tag’ an: Düstere Wolken ziehen von links auf, und die in zwei Wesen aufgespaltene Frau ink­arniert beide Bereiche.


K: Das ist viel­leicht eine Wesen­heit mein­er selbst, wenn sie so wollen. Ich pilgere ja in der Vorbereit­ung zu einem neuen Bild oft zwis­chen den unter­schied­lich­sten Mög­lich­keiten hin und her. Am Anfang steht natür­lich immer die Anschauung, die sel­ten genügt. Daraus ergibt sich dann so etwas wie ein reflex­ives Den­ken, das sich oft aus ein­er in mir ver­anker­ten mög­lichen Unzu­fried­en­heit her­leitet, die mich treibt, die aber wie­der­um nicht genügt, um alleine zu existier­en, somit in etwas Drittes geführt wer­den muss, das aus sich bestehen kann und eben die malerische Bildebene ist.


L: Ganz offensicht­lich res­ultiert die innere Span­nung Ihr­er Bilder aus dem Sicht­bar­wer­den von etwas Unsicht­bar­em, eben dem Rät­sel­haften oder Gespalten­en unseres Daseins. Über sol­che Rät­sel kann, ja muss man sprechen – sie sind dann echt, wenn sie sich im Gespräch nicht, wie Kreuz­worträt­sel, auflösen, son­dern intens­ivier­en. Haben Sie bei der Konzep­tion und der Arbeit an Ihren Bildern das Gefühl, eine Zone der Gefahr zu betreten?


… es gibt keine Her­metik – weder in mein­en Bildern, noch in meinem Leben


K: Ich habe nichts dage­gen, es ist mir sog­ar sym­path­isch, wenn das Betracht­en eine gewisse Arbeit, eine Mühe ver­ursacht, die meinetwe­gen in eine Gefahr münden kann. Meine Gefahren­zone beim Erarbeiten eines neuen Bildes aber ist mein Zweifeln. Diesem Zweifel, meinem ständi­gen opponier­en in mir hab’ ich es zu verd­anken oder zu ver­schulden, dass meine Bilder auch gleich­sam mindes­tens dop­pelte Entwürfe sind, da sie in mir ständig zur Anarch­ie aufrufen, indem sie eine Her­metik pro­pa­gier­en, die es im Grunde nicht gibt – weder in mein­en Bildern, noch allge­mein in meinem Leben. Diese Bilder sind ern­sthaft, sind komisch, oft aber in einem Sinne irrit­i­er­end. Sie fordern an sich nichts Beson­deres, aber wer sie ver­stehen will, muss bereit sein, sich einem Bedeu­tung­spendel aus­zuliefern wie auf ein­er Schaukel, die nur der genießen kann, der sich der Bewe­gung her­gibt. Allen ander­en wird übel.


L: Mit ander­en Worten, ohne dass man sich dieser Gefahr aus­set­zt, ohne Gren­züber­s­chreit­ung gelangt man gar nicht in den Bereich wirk­lich­er Malerei, son­dern kön­nte höch­stens die Ober­fläche dessen, was wir Real­ität nennen, abpinseln?


K: Ist nicht jede Malerei wirk­lich? Und wenn dem so ist, so stellt sich die Frage: Was macht jenes Bild zur Kunst und war­um ver­har­rt ein anderes in ewi­ger Bedeu­tungslosigkeit? Aber, sie haben, glaub’ ich, ganz recht. Ein Wag­nis oder ein­en Gefahren­raum zu betre­ten, wie sie sagen würden, der entsteht doch für ein­en Maler nur dann, wenn er das malerisch bish­er Erreichte nicht wieder­holt, son­dern eben mit auf ’s Spiel set­zt, indem er auf ’s Gan­ze geht – selbst wenn dies zu einem Scheit­ern führen soll­te! Womit wir wieder beim ‚Risiko’ und den zu bege­henden ‚Dumm­heiten’ wären. 
Zwar hab’ ich eine Vor­stel­lung von gemal­ten Bildern, wie sie in drei oder vier Jahren aus­se­hen kön­nten. Das ist aber mehr eine unge­fähre Vor­stel­lung, als dass ich sie ihnen näh­er erläutern kön­nte. Es ist mehr eine Mut­maßung als eine Gewis­sheit. Eine Mut­maßung von etwas, das nicht ist, aber sein kön­nte, umtreibt mich von jeher. Mein Haupttrieb ist meine Unruhe. Auch ver­folge ich kein Ziel. Infolgedessen habe ich mit mein­en vierzig Jahren noch immer das Gefühl am Anfang ein­er Entwicklung zu stehen


L: Nun zu Ihren let­zten Arbeiten. Beginnen wir mit derjeni­gen, die mich regel­recht ers­chreckt. ‚Am Mor­gen danach’ (2006) – der Titel evoziert unwei­ger­lich ‚Am Tag danach’ (1885) von Edvard Munch – zeigt ein junges Mäd­chen, nur mit Unter­wäsche bekleidet, das Hil­fe sucht, aber nicht fin­d­et, bei ein­er Frau, die viel­leicht seine Mut­ter ist; rechts von ihr, weit­er vorn, kniet ein Mann, der seine Hände betrachtet, dessen Gesicht­saus­druck etwas Diab­ol­isches hat. Der Betrachter ist regel­recht gezwun­gen, an ein Inzest-Ges­chehen zu den­ken – oder etwa nicht?


…haben uns bewusst für ein sor­gen­volleres Leben entschieden


K: Offen­bar habe ich bei diesem Bild, trotz ihres Ers­chreck­ens, ein­iges falsch gemacht. Wenn der Betrachter gezwun­gen ist, in nur eine ein­zige Rich­tung zu den­ken, dann gilt dies umso mehr. Ja, der Mann kniet auf dem Boden und betrachtet seine Hände. Ich glaube, er hat nichts Diab­ol­isches. Ich habe mir beim Malen jeden­falls Mühe gegeben, seine Gesicht­szüge nicht zu stig­mat­is­ier­en. Die schein­bare Ein­tracht der Mut­ter-Kind­bez­iehung auf der linken Seite schreit förm­lich nach einem proj­iz­ier­ten Gegen­ent­wurf, ein­er Polar­isa­tion, die in eben jenem Mann grün­det. Es liegt aber ver­mut­lich an der Mut­ter-Kind Kon­stel­la­tion, dass wir in jenem Mann etwas Diab­ol­isches sehen können, weil wir es im Grunde sind, die dies in ihm sehen wollen. 
Und, ich gestehe ein, dass dieser Ver­dacht durch die vollzo­gene Licht­dram­at­ur­gie erhär­tet wer­den kann. Aber das harte Licht, trifft jen­en Mann nicht von links, son­dern von rechts kom­mend und als Lichtquelle malte ich eben jen­en mon­strösen Kühls­chrank. Aber, war­um ist dieser ver­fluchte Kühls­chrank da, in den man merkwür­di­ger­weise nicht hineinsch­auen kann und der zudem so etwas wie eine Erleuch­tung zu brin­g­en scheint? Ein Kind sucht Schutz, ein Mann ger­ät unter Ver­dacht und die Frau strahlt bei­nahe noch weni­ger Ener­gie aus, als der Kühls­chrank und einem über­haupt lieb sein kann. Mit ander­en Worten: Dieser Kühls­chrank ist wichtig und ohne jenes Mon­strum hätte ich dieses Bild wahr­schein­lich nicht gemalt! Natür­lich hätte man den Kühls­chrank, den man auch als Gifts­chrank bezeichnen kön­nte, weit­er öffn­en können. Aber das wollt’ ich nicht, da ich bei­nahe ein ängst­liches Grundmis­strauen gegenüber ein­er all’ zu großen Zudring­lich­keit habe, die ich natür­lich in ander­en Bildern nicht ver­trage, am wenig­sten jedoch in mein­en eigen­en ver­trage. Deswe­gen gibt es in mein­en Bildern auch kein Blut, gesch­weige ein­en Toten, weil mir ein sug­ger­i­er­endes Rauschen, ein schwebendes Andeu­ten lieber ist. 


L: Ein anderes Bild: ‚Am Ende der Ungeduld’ (2006): Ein junges, nur mit einem Slip bekleidetes Mäd­chen liegt auf einem zer­wühl­ten Bett; der Betrachter assoziiert, angeleitet durch den Titel der Arbeit, ein­en ersten sexuel­len Kon­takt – rechts steht dasselbe Mäd­chen, abgespal­ten von seinem Gegen­bild, bei­nahe wie die Seele seines Körpers, die nachgrü­belt über das, was ihr wider­fahren ist: Inbe­griff des Mel­an­chol­ischen und viel­leicht Ver­let­zten. Das Dop­pel­gän­ger­motiv ver­tieft gerade die Ein­samkeit der Szene. Ganz direkt gefragt: Glauben Sie, dass unsere Sehn­sucht nach Gemeinsch­aft nur unsere Ein­samkeit intensiviert?


…Das Atelier ist mein Rück­zug, mein Reser­voir, meine Privatkirche, wenn Sie so wollen, da mir sonst alles zuviel würde und das Leben mich ersch­la­gen könnte


K: Das ist, glaube ich, eine feine Beo­bach­tung, dass das Dop­pel­gän­ger­motiv unsere Ein­samkeit ver­deut­lichen kann. Mich ver­fol­gt ja, wie sie wis­sen, die Dop­pel­gänger­schaft schon geraume Zeit-Ich würde den­ken, seit nun schon zehn Jahren. Es taucht oft auf und in dem recht klein­en Bild „Am Ende der Ungeduld“ ist es fast auf die Spitze getrieben worden, da sich in ihm bei­nahe alles zu dop­peln scheint. Und trotzdem ist, so glaube ich, ein het­ero­genes Bild herausgekommen. 
Aber zurück zu ihr­er Frage: Ich bin nicht sich­er, ob ich als Maler ihre Frage, die gleich­sam auch eine These sein kön­nte, hin­reichend beant­worten kann. Auf jeden Fall ist mir die Ein­samkeit sehr ver­traut, da sie mein Leben als Malers, ken­nzeich­net. Wichtig ist doch für ein Menschen­leben nur, dass die Ein­samkeit ein gewoll­ter Zus­tand und kein Ver­häng­nis ist. Das Atelier ist mein Rück­zug, mein Reser­voir, meine Privatkirche, wenn Sie so wollen, da mir sonst alles zuviel würde und das Leben mich ersch­la­gen kön­nte. Es ist eine Dasein­snot­wendigkeit. Das wer­den Sie als Philo­soph, Herr Max Loren­zen, doch ähn­lich empfind­en. Ich glaube nicht, dass man zu einem Philo­sophen oder meinetwe­gen Maler wird, dass man die Ein­samkeit, die let­zt­lich in jedem Menschen steckt, ständig zu bevölkern sucht. Auf der ander­en Seite sind Bilder, Schriften, was auch immer, Kom­munika­tion­sange­bote, um mit ander­en Menschen in Bez­iehung zu tre­ten. Jean Paul sagt das sehr schön:’…Bücher, Romane sind dicke Briefe an Fre­unde’. Zu ergän­zen wäre dieser Satz durch: …sol­che, die man noch nicht kennt. 
Sie, Herr Loren­zen, hat es in die Philo­soph­ie ver­sch­la­gen und mich in die Kunst. Wir beide trafen diese Entscheidung mit dem Wis­sen an, dass dieser Entschluss unser Leben auf ein­er all­täg­lichen, wie existen­zi­el­len Ebene, nicht erleichtern, son­dern im Gegen­teil, erschwer­en wird. Das war völ­lig klar. Wir haben uns bewusst für ein sor­gen­volleres Leben entschieden. Oder glauben Sie, dass sich 1992, als ich in Leipzig zu stud­ier­en anf­ing, irgendein Mensch für Malerei interessierte? Mehr noch: In den Augen nicht weni­ger Leute, war der Entschluss, Malerei in der Nachwen­dezeit zu stud­ier­en, etwas Hirnris­siges. Wenn sie heute, durch dies­elbe Akademie gehen, wer­den Sie schnell fest­s­tel­len, dass ein ander­er Wind weht. Trotzdem bin ich im Nach­hinein froh, dass ich dam­als und nicht heute auf die Leipzi­ger Akademie kam. Sich­er, diese Zeit war demut­sreich, weil kein Mensch sich für meine Malerei interessierte. Aber auf der ander­en Seite war diese Situ­ation wichtig, da sie mich robust machte, indem sie mich noch mehr zwang, mein Pro­jekt vor­an­zutreiben. Leipzig wäre für mich im Moment dah­er kein guter Ort, um Malerei zu studieren. 


L: In all Ihren Bildern zeigt sich die Dop­pel­wer­tigkeit unseres Daseins. 1999 haben Sie in diesem Zusam­men­hang das Bild "Übun­gen zur Meister­schaft" gemalt. Sie war­en noch auf der Suche zwis­chen Vor­mo­d­erne und Nachmo­d­erne, zwis­chen Jusepe de Rib­era und Fran­cis Bacon, Gegen­ständ­lich­keit und Abstrak­tion. Das Dip­lom an der Leipzi­ger Kunstakademie haben Sie zuvor absolviert. Die Lehr­jahre unter ihr­em Pro­fess­or war­en sehr lehr­reich. Eine Aus­ein­ander­set­zung mit neuen und lebenden Lehrmeistern hat­ten begonnen: Dar­unter­Sig­mar Polke und Ger­hard Richter. Kon­f­likte, die Sie auch mit diesen Malern hat­ten, schein­en sie zu interessieren.
Es gibt eine ‚große Bes­ti­al­ität, die in uns allen herrscht’ (Gespräch, 1997), die Sehn­sucht nach dem Gegen­teil – und, für Sie ganz zen­t­ral, die ‚innere Freude’, die uns die Kunst, schon in der Rezep­tion und sicher­lich erst recht durch das Malen selbst, gibt: ‚Kunst ist doch immer Freude, ob ich nun etwas Fröh­liches entwickle oder etwas Tra­gisches darstelle’ (Gespräch, 2003). – Kom­men wir dam­it der Dop­pel­wer­tigkeit des Lebens näh­er, wenn wir begre­ifen und füh­len, dass es zugleich Freude und Trauer ist, beide nicht ohne ein­ander sind, ja ihres Gegen­teils bedürfen?


K: Erst kürz­lich, das rührt fast wieder an ihre Ein­samkeits­frage, war ich im Wald ziel­los unbestim­mt unter­wegs. Plötz­lich kam mir ein älter­er Mann ent­ge­gen, von dem ich dachte, er sei so wie ich, ebenso beim schlendern unter­wegs. Als wir ein­ander näh­er kamen, stell­te ich fest, dass er in sein­en Ohren diese merkwür­di­gen Stöpsel hatte mit den­en er offen­bar Musik oder weiß der Teufel was hörte. Er kon­nte dem Augenschein weder dem Rauschen der Blät­ter, noch das Vögel­gezwitscher wahrneh­men. Er hat bewusst oder unbe­wusst, auf die Mög­lich­keit ein­er sich bietenden Ruhe, um nicht Stille zu sagen, ver­zichtet. Ich dachte für mich, dass dieser Zus­tand anmutender Ruhe für ihn etwas Uner­träg­liches sein kön­nte. Man kann doch nicht das Licht anschal­ten, wenn man ins Kino geht. Offen­bar aber wird für diesen Menschen, wie wahr­schein­lich für immer mehr Menschen, die Ken­nt­nis von den sich ein­ander bedin­genden Zwei­heiten, die am Grund der Welt rühren, immer weni­ger bedacht oder über­haupt gedacht. Es fällt mir übri­gens auch auf, dass gewisse Filme, die schon deswe­gen unzeit­gemäß sind, weil sie lang­samer sind, schwer­er anzuschauen, schwer­er zu kon­sum­ier­en sind. Das fällt mir gerade dann auf, wenn ich Filme eines Angelo­poulos, Wenders oder eines Jarmusch’s dem Fre­und oder Bekan­nten zum Anschauen mit­gebe und dieser aber in den sel­ten­sten Fäl­len etwas dam­it anfan­gen kann, und wenn sie geschaut wer­den, nicht mit der nöti­gen Konzen­tra­tion betrachtet wer­den. Viel­leicht ändern sich unsere Sehge­wohnheiten durch Inter­net und Fernse­hen – ich hab’ keine Ahnung. Auf der ander­en Seite tut sich für mich eine Diskre­panz auf, denn ich spür’ für mich umso deut­lich­er, wie wichtig die Ver­lang­samung für mein Leben, meine Arbeit wird. 


…Schafft die Gestal­tung eines sol­chen Beie­in­anders von Schön­heit und Kälte nicht die Grundla­gen ein­er heut­i­gen, nachmo­d­ernen Ästhetik?


L: Wirk­liche (also jet­zt: nachmo­d­erne) Philo­soph­ie geht, wie auch die Malerei, diesem Zusam­men­hang, diesem Zugleich von Bes­ti­al­ität und Freude nach und ver­sucht beides in ein­er, wie man früh­er sagte, intellektuel­len Anschauung vors innere Auge zu bekom­men. Betracht­en wir nun, Sie und ich, wenn ich das vorsch­la­gen darf, Ihre ‚Nike’-Bilder (2006). Das erste sieht wie eine Vari­ation von ‚Am Ende der Ungeduld’ aus. Das junge, bei­nahe unbekleidete Mäd­chen wirkt wie zer­sch­la­gen und liegt in ein­er Pose, die den Betrachter fast zwangsläufig zum Voyeur macht, in einem mächti­gen Ses­sel. ‚Nike II’ kön­nte eher die Dop­pel­gän­ger­in darstel­len. Sie schmiegt sich an die Lehne des Ses­sels bei­nahe wie an ein mensch­liches Wesen; aber den­noch gibt es keine Ver­bindung zwis­chen der Kind-Frau und dem Möbel: dieses weist sie genauso ab wie seine Mut­ter (erst wenn man genauer hin­sieht, erken­nt man, dass der Körp­er, Kopf und Arme des Mäd­chens keine Ver­for­mun­gen des Leder­ma­ter­i­als bewirken). Betrachtet man jet­zt beide Bilder noch ein­mal, stellt sich ein Gefühl des Unheim­lichen ein. Und gerade deswe­gen empfin­d­et man, jeden­falls geht es mir so, nun so etwas wie Rührung angesichts der Selb­st­pre­is­gabe dieses Körpers.
Welch eine Mis­chung: In dieser Hingabe, ja Sor­glosigkeit gegenüber dem Kal­ten und Frem­den entsteht eine merkwür­dige Schön­heit, die durch die Beimis­chung des Lasz­iven, bei­nahe Obszön­en nicht aufge­hoben wird. – Ich begeistere mich beim Anschauen der Bilder und nehme, glaube ich, etwas von der Freude wahr, von der Sie sprac­hen, ver­gesse dabei aber – bei­nahe – meine Frage. Sie lautet: Schafft die Gestal­tung eines sol­chen Beie­in­anders von Schön­heit und Kälte (die sich eben nicht in ein­er angeb­lich höher­en Syn­these auf­heben!) nicht die Grundla­gen ein­er heut­i­gen, nachmo­d­ernen Ästhet­ik? Und weit­er: Was wäre für Sie Schön­heit heute, im nachmo­d­ernen Zeitalter?


…Der Zeit­geist hat sich angewöh­nt, die Schön­heit iso­liert als ein abso­lutes Gut zu betrachten


K: Es freut’ mich immer, wenn ein Betrachter etwas von jen­er Freude empfin­d­et, die ich beim Malen empfand. Mehr noch freut es mich, dass sich ihre Freude nicht sogleich, son­dern beim zweiten Blick ein­stell­te. Ja, meine Tochter Nike, die ich in jen­en zwei Bildern malte, ist von ein­er unant­ast­bar­en Schön­heit. Aber mit ein­er sol­ch unschuldi­gen Rein­heit allein, lässt sich noch keine großartige Malerei machen. Da kom­men wir wieder zu dem innewohn­enden Zweifel, der ja in mir eher unbe­wusst als bewusst zum Aus­druck kom­mt. So wie es mir, lieber Herr Loren­zen, gener­ell Mühe bereit­et, im Nach­hinein Rechenschaft über das einst Gemalte abzule­gen, denn zum ein­en ist oft jedes entstandene Bild zu kom­plex, um exakt darauf einge­hen zu können, um die Urgründe plaus­i­bel dar­le­gen zu können. Auf der ander­en Seite hieße dies auch, Rechenschaft abzule­gen, über ein­en doch weit­ge­hend unvernün­fti­gen Prozess, der das Malen nun ein­mal ist.


L: Noch ein­mal nachge­fragt: Was bedeutet für Sie Schön­heit heute?


K: Der Zeit­geist hat sich angewöh­nt, die Schön­heit iso­liert als ein abso­lutes Gut zu betracht­en. Die wenig­sten Menschen wer­den, wie eben von ihnen bes­chrieben, ein gleichzeit­iges Beie­in­ander von Wärme und Kälte im Falle der beiden Nike-Bilder, ein Schön­heits­motiv erkennen können. Wird heute also beis­piels­weiße Kälte attestiert wird, wird gleich­sam oft auch der Schön­heits­be­griff ausfiltriert. 
Wenn Sie auf der ander­en Seite ein Bild von Cor­inth betracht­en, neh­men wir das Bild ’Kain’(1917) oder Ribera’s ’Ixion’(1632), so lässt sich leicht aus­machen, dass dies zwei Bilder sind, die durch eine gewisse Aggressiv­ität auffal­len. Sie sind, im wahr­sten Sinn des Wor­tes, gewaltig und bestechen sog­ar durch eine schein­bare Häss­lich­keit. Beide Maler haben aber ihren Platz nicht dadurch gefun­den, dass sie uns bewusst etwas Häss­liches malen woll­ten. Sie haben diese Bilder gemalt, weil der Zus­tand des Häss­lichen, wie des Schön­en, gleich­sam aus ihnen spricht. Aus diesem Impuls haben diese Maler große Kunst geschaf­fen. Infolgedessen ist das Häss­liche etwas, was unbedingt zum Schön­en mit hin­zugezählt wer­den muss. Fehlt hinge­gen gän­z­lich die Kor­res­pondenz zwis­chen diesen Polar­itäten, entstünde schnell Kitsch – Im Alleinsch­ön­en, wie Allein­häss­lichen. Der entscheidende Punkt ist doch im Grunde eine intellektuelle Voraus­set­zung. Natür­lich wird Malerei auch immer an dem Maße ihr­er handwerk­lichen Solid­ität gemessen. Das war immer so und wird immer so bleiben. 
Aber das Handwerk alleine, wird es auch nicht richt­en, denn Kunst, kom­mt ja, wie wir ja bereits wis­sen, nicht von Können.

Stell­te man auf der ander­en Seite exem­plar­isch z.B. die Werke Corinth’s und Ribera’s neben Werke zwei­er gefeiert­er zeit­genöss­is­cher Maler wie Alex Katz oder Norbert Bisky, für der­en Blendwerke heute übri­gens nicht wenige Sammler enorme Sum­men aus­geben, hat man plötz­lich das Gefühl, Jahr­markts­malerei zu betracht­en, weil bei diesen Mit­tel­streck­en­malern die sich bedin­gende Wech­sel­wirkun­gen vom Wesen der Schön­heit unter­be­lichtet oder gar nicht vorhanden sind. Weder in der Bildkom­pos­i­tion, noch in der malerischen Umset­zung. Alle Kunst strebt nach Schön­heit. Auch jene beiden zeit­genöss­is­chen Maler streben natür­lich nach Schön­heit, wenngleich hier zu kon­statier­en ist, wo nichts ist, kann auch nichts wer­den. Eine wirk­liche Schön­heit, so würde ich den­ken, kom­mt eben sel­ten allein, ja es bedingt geradezu eines Gegenübers. 


L: Wäre das viel­leicht ein großes Ziel heut­i­ger Malerei, nach den Bedin­gun­gen und Mög­lich­keiten ein­er neuen Schön­heit zu suchen und sie darzustellen?


K: Ich fürchte, dass werde ich nicht beant­worten können. Jedes Bild, eines wie auch immer mal­enden Künst­lers, ist doch immer ein Aus­druck der jew­eils spezi­fis­chen Schön­heit. Ihre Frage wird nur die Zeit beant­worten können, denn ein Künst­ler ver­fügt zwar über ein­en Gestal­tung­s­rah­men, die Bedin­gun­gen dafür gibt zum ein­en die Gesell­schaft, zum ander­en aber auch die Kun­st­geschichte vor. Wir sind also gar nicht so frei, wie viele mein­en. Aber wir haben im Laufe des Lebens zumind­est die Chance uns zu befreien. Immerhin!

Aris Kalaizis | Am Ende der Ungeduld | Öl auf Holz | 35,5 x 56,5 cm | 2006
Aris Kalaizis | Am Ende der Ungeduld | Öl auf Holz | 35,5 x 56,5 cm | 2006

L: Viel­leicht arbeiten wir beide, wenn ich das sagen darf, an der­selben Sache, jeder auf seine Weise. Die alte (mod­erne!) Furcht der Maler und Dichter dav­or, sich über ihre Werke zu äußern, ist über­holt. Deswe­gen reden wir mitein­ander. Und wir treiben hier keine Kun­st­geschichte und neh­men keine Be-griff­szer­g­lie­der­ungen vor, son­dern ver­suchen, uns über die neuen Bedin­gun­gen der Inspir­a­tion zu ver­ständi­gen, weil uns das unmit­tel­bar ange­ht. In ‚Deaf­con No. 1’ zei­gen Sie sich bei der Arbeit. Aber sie stehen nicht vor ein­er Staffelei, son­dern direkt vor der Zim­mer­wand und hal­ten – was in der Hand? Auf jeden Fall betracht­en Sie mit äußer­ster, gespan­nter Aufmerksamkeit die leere, selt­sam leuchtende Fläche vor sich. Won­ach suchen Sie?


K: Ich halte ledig­lich eine Lampe in der Hand. 


L: Das neue Lebensge­fühl, dem Sie in Ihren Bildern zur Sprache ver­helfen, ber­uht weder auf bloßer ‚Abnei­gung zum Dasein’, noch auf ‚uneinges­chränk­ter Daseins­be­jahung’ (Gespräch, 1997); es bein­hal­tet beides gleichzeit­ig. Ist eine sol­che par­al­lele Wahrnehmung die Voraus­set­zung dafür, die Intens­ität der Real­ität wahrzun­eh­men und sol­cher­maßen eigent­lich sie – sich selbst malen zu lassen (‚Bin ich es, der malt? Spricht durch meine Bilder nicht die Bäume, der Wind, das Geschlecht, die Geschichte?’, ebda.)? Bedarf es zu ein­er sol­chen Wahrnehmung ein­er beson­der­en Wach­heit? Wenn ja, wie gelangt man in ein­en sol­chen Zustand?


…Warten als ein ver­sunkenes Innehal­ten, welche die erlösende, unnachgiebige Genauigkeit zum Ziel hat


K: Eine Wach­heit, wie Sie sagen, ist, für mich gesprochen, auf jeden Fall erforder­lich, womit wir wieder bei der eingangs besprochen­en und erforder­lichen Konzen­tra­tion wären. Die Suche nach einem zündenden Ini­tial ist manch­mal ent­muti­gend, manch­mal ermuti­gend. Es gibt Tage, wie jene in Ohio, wo ein Ini­tial, fast wie in ein­er Ketten­reak­tion, das näch­ste aus­löst usw. Dann gibt es wie­der­um Tage, wo sich nichts tut, wo es mir schwer fällt, so etwas, wie eine innere Ruhe zu find­en. Dann renn’ ich meist wie ein Trot­tel umh­er und ver­such’ mich zu zer­streuen, erledige Dinge im Haush­alt, renne mit der Bohrmaschine umh­er oder sch­lage Nägel in die Wand. Das sind aber alles nur mehr oder weni­ger Scheintätigkeiten. Im Grunde ist es aber eine andere, ziem­lich unel­eg­ante Form des Wartens. Das kann man sich wie ein Wartez­i­m­mer beim Zahnar­zt vor­stel­len, nur dass ich eben zugleich Patient und Arzt bin.

Auf der ander­en Seite ändert sich in mir auch etwas in der Bild­find­ung, denn früh­er benötigte ich ja, wie Sie wis­sen, zun­ächst die Anschauung der näher­en Umge­bung. Heute schwir­ren zum Teil gan­ze Bilder in mein­er Vor­stel­lung umh­er, ohne das mir irgen­det­was von dieser Vor­stel­lung oder bess­er: Vis­ion jemals unter die Augen gekom­men ist. Das erschwert mitunter die Umset­zung, wie Sie sich vor­stel­len können. Auf jeden Fall aber kann ich sagen, dass mein Warten ein ver­sunkenes Innehal­ten, welche die erlösende, unnachgiebige Genauigkeit zum Ziel hat. Bis man den ver­meint­lich recht­en Weg sieht. Aber, selbst wenn man den recht­en Weg gefun­den zu haben glaubt, ist er ja nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite wird dann eben doch auf der Lein­wand entschieden.

L: Noch­mals ganz direkt gefragt: Won­ach suchen Sie Ihre Mod­elle aus, war­um sieht man so häufig Ihre Frau und Ihre Tochter auf Ihren Bildern?


K: Das ist eher Bequem­lich­keit. Ich kenne ihre Physiognomi­en und sie kennen auch ein wenig meine Psy­cho­lo­gie. Es ist eine Art von unaus­ge­sprochen­er Ver­ständi­gung, die mir übri­gens auch bei den ander­en Bild­fig­uren zugute kom­mt, die ja alles­amt, wie sie wis­sen, Fre­unde und Bekan­nte sind. Ein dank­barer Umstand, der vieles erleichtert. 


L: Bei­nahe zum Schluss eine auf anderes zielende Frage. Man kann Sie der Leipzi­ger Schule zurechnen, der vom Kun­st­markt nun schon seit ein­i­gen Jahren große Aufmerksamkeit ges­chen­kt wird. Bedeutet dieses "in"-Sein für Sie eine För­der­ung, sozus­agen ein­en Motiv­a­tionsschub, der es Ihnen ermög­licht, die Gren­züber­s­chreit­ung noch weit­er zu for­ci­er­en? Oder hat es andere Gründe, dass die Gefähr­lich­keit Ihr­er Bilder nicht nur them­at­isch, son­dern auch form­al noch ein­mal zugen­om­men hat?


…Es gilt sein­en Rhyth­mus zu find­en, sonst zer­frisst der Kun­st­markt ein­en auf ein­er existen­zi­el­len Ebene


K: Es ist auf der ein­en Seite natür­lich sehr schön, wenn man als Maler von sein­er Arbeit leben kann. Aber nur weil mein Leben früh­er sor­gen­voller war, war es nicht weni­ger lebenswert, denn es gab und gibt ja für mich nichts schöneres, als so ein Menschen­leben zu führen. Immer schon! 
Auf der ander­en Seite gilt es, gerade wenn die Dinge sich leichter zu fügen schein­en, mindes­tens ebenso konzentriert und viel­leicht noch konzentriert­er zu arbeiten, denn der Erfolg, wenn man ihn als sol­chen bezeichnen will, kann ein­en schnell leichtsin­nig machen. Meine Jahre­sproduk­tion beläuft sich derzeit auf zehn bis zwölf Bilder. Tendenz eher fallend – zum Leidwesen meines Galer­isten. Das heißt: Es gilt sein­en Rhyth­mus zu find­en, sonst zer­frisst der Kun­st­markt ein­en auf ein­er existen­zi­el­len Ebene. Ich finde ja ohne­hin, dass zu einem Maler­da­sein unbedingt ein Moment des inner­en Wider­standes gehören soll­te, der stark genug sein soll­te, um dem Gängigen zu ent­gegnen. Selbst aus einem Wohl­befind­en heraus hat ein Maler Wider­stand zu entwick­eln und let­ztend­lich natür­lich auch zu über­winden. – Nur dann hat er doch das Gefühl, dass er ist. 


…Ein Sog des Gefäl­li­gen, des Unter­halt­samem macht sich allenthal­ben breit


Wenn Sie jedoch beis­piels­weise auf den zeit­genöss­is­chen Kun­st­markt der let­zten Jahre schauen, wer­den Sie nur unschwer über­se­hen können, dass eine kun­st­schaf­fende Mehrheit die Bedür­fn­isse des Marktes gewis­ser­maßen ablauscht. Natür­lich wird wieder ver­mehrt gemalt. Aber das alleine reicht noch nicht, um das State­ment von einem höher­em Level zu recht­fer­ti­gen. Dabei geht es mir nicht dar­um, die grundsätz­liche ver­bind­ende Kor­res­pondenz zwis­chen Kul­tur um Kom­merz zu geißeln. Viel­mehr geht es hier­bei um die Frage der Pri­or­ität. Ist ein Bild durch sein­en inhalt­lichen, dass heißt for­m­alen Gehalt bestim­mt? – Ist die Nachfrage also zweitrangig oder bestim­men Verkauf­szah­len, was gemalt wird? Nicht nur ein Blick auf die Massenmedi­en, den kul­turel­len Raum genügt, um sich klar­zu­machen, dass eine unglaub­liche Kom­merzi­al­is­ier­ung und Niv­el­lier­ung fort­ges­ch­rit­ten ist. Denn aus der Vielzahl der gemal­ten Bilder erwuchs keine Viel­falt son­dern eine zun­ehmende Uni­form­ität. Ein Sog des Gefäl­li­gen, des Unter­halt­samem macht sich allenthal­ben breit. Wobei ich gern’ ergän­zend anfü­gen würde, dass gegen eine Unter­hal­tung­skom­pon­ente nichts spricht, denn in jeder Arbeit soll­te doch ein Moment der Freude oder des Spaßes integ­riert sein, denn nur dadurch wird für uns die Tätigkeit über­haupt erst interess­ant. Krit­isch aber wird es eigent­lich nur, wenn man sein gan­zes Tun unter jeder Spaßkom­pon­ente zu sub­sum­ier­en ver­sucht. Es wird zuviel aus­ges­part, was Sper­riges zumutet.


L: Würden Sie sich selbst als Ver­treter der Leipzi­ger Schule zurechnen?


K: Nein, ich bin weder ein Ver­treter irgendein­er Schule noch eines Labels. Ich bin meine Eigenvertretung.


L: Sie bewun­dern Rib­era. Welche Maler der Ver­gan­gen­heit – und der Geg­en­wart – sind für Sie noch beson­ders wichtig? Welche Art Lit­er­at­ur, welche Autoren, lesen Sie, welche Musik hören, welche Filme sehen Sie gerne?


K: Bacon, Ham­mer­shøi, Rauschen­berg sind großartig! Musik höre ich aus­schließ­lich im Atelier. Die ist eher spröde, laut und span­nungs­ge­laden, weil sie am ehesten meinem Span­nungs­ver­hält­nis beim Malen ents­pricht. Ein paar Film­re­gis­seure hab’ ich schon genan­nt. Ein­en aber, Chris­toph­er Nolan, würd’ ich gerne geson­dert erwähnen. Seine Filme sind mir die lieb­sten, vom ersten(Following, 1998) bis zum jüngst erschienen­en Film (Prestige, 2006). Selbst seine frühen, niedrig­budget­tier­ten Filme sind auf eine intel­li­gente und angenehme Weise aus­geklü­gelt. Er vollzieht in sein­en Streifen enorme Wendun­gen, set­zt beim Betrachter oder Zuschauer viel voraus und kann, was für das Fil­memachen noch viel wich-tiger ist, intellektuelle Sprünge form­al umsetzen.
Ich lese momentan leider viel zu wenig. Mein Lesen ist auch kein man­nig­faltiges Lesen, es ist oft ein wieder­holendes Lesen. Ich tu’ dies meist abends, vorm Sch­lafenge­hen, um kurz darauf beseelt abzudriften. Fortwährend, wieder und wieder lese ich vorzug­s­weise‚ Rameau’s Neffe’ von Denis Diderot, weil es eben ein Buch mit vielen Stolp­er­stein­en ist.

©2007 Max Loren­zen | Aris Kalaizis


Max Loren­zen, geb. 1950, Philo­soph und Schrift­s­teller, ist Begründer des Mar­bur­ger For­ums. Er ver­öf­fent­lichte u.a. "Das Schwar­ze: Eine The­or­ie des Bösen in der Nachmo­d­erne. Eine Idee der Aufklärung" sow­ie "Krankheit. Kälte. Unster­b­lich­keit: Drei nachmo­d­erne Erzählun­gen". Zulet­zt arbeitete er an ein­er "Philo­soph­ie der Nachmo­d­erne". Max Loren­zen starb 2008 in Marburg.

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